Der Kopf, der nicht
in der Mitte war
Kolumne 01/23: Das Blickwinke(r)l
Neulich besuchte ich einen Malkurs. Ich war top vorbereitet, hatte Fotos aus dem Internet downgeloadet und Skizzen gemacht, wusste genau, was ich wollte. Voll mit Ideen und einer genauen Vorstellung von meinem zukünftigen Werk betrat ich das Atelier des Workshop-Leiters.
Zuerst sollte der Hintergrund gestaltet werden. Nach einem Kreativ-Coaching entschied ich mich für die „Tupftechnik“. Dabei wurde die Leinwand mit Wasser besprüht und die Farbe mit einem Schwamm aufgetupft. Mein Arbeitsalltag findet ja vor dem Computer statt, die künstlerische Arbeit mit den Händen war etwas eingerostet. Aber mit relativ wenig Aufwand wurde aus einer weißen Leinwand binnen kürzester Zeit eine mit Farbtupfern in Blau, Hellblau, Dunkelblau und Weiß. Mein Sternenhimmel war gelungen, die Basis gelegt. Stolz sah ich auf mein Opus: Alles nach Plan.
Für meinen Porträtkopf führte mich der Meister in die „Technik des kurzen Pinselstriches“ à la Monet ein. Hm, das war schon etwas tricky. Ich musste genau und behutsam vorgehen, also nix für Ungeduldige. „Kleinflächig nebeneinander gesetzte Farbtöne sollen in lebhaft virtuosen Pinselbewegungen die Bildfläche ausfüllen“, erklärte der Meister. Der Weg war lang, doch entschleunigend. Und da ich mich im Urlaub befand, verfügte ich auch über die Zeit und Geduld, die ich brauchte.
Am Ende trat ich einen Schritt zurück. Und erst da fiel es mir auf: Der Porträtkopf war nicht ganz in der Mitte. Alles andere war gut gearbeitet, die Techniken umgesetzt. Aber diese Unregelmäßigkeit störte mich enorm und vermieste mir den gesamten Anblick.
Ich bat um eine neue Leinwand. „Nein“, erwiderte der Meister. „Das Bild ist gut, wie es ist.“ Und seine nächsten Worte veränderten meine Sicht – nicht nur auf mein aktuelles Werk, sondern auch auf mich selbst und viele Aspekte im Leben. „Ich sehe“, sagte er, „dass der Kopf nicht mittig ausgerichtet ist. Ich sehe aber auch 99,9 Prozent toll ausgeführte Pinselstriche. Ein Spiel aus Licht und Schatten, eine kraftvolle Energie und die eine Besonderheit, die dieses Bild hat.“ Bis dahin war ich auf die mangelhafte Ausrichtung des Kopfes konzentriert und allem anderen gegenüber blind gewesen. Doch der Meister hatte recht. Und so gesehen war es ein tolles Bild.
Vielleicht konzentrieren wir uns in vielen Bereichen unseres Lebens zu sehr auf die 0,1 Prozent Unregelmäßigkeit anstatt auf die 99,9 Prozent positiven Aspekte. Viele verzweifeln, weil sie nur diese kleinen Makel sehen. Auch ein Karriereweg verläuft meist nicht zu 100 Prozent geradlinig. Es gibt immer ein paar Abweichungen, Umwege, Kurven. Doch meist sind es genau diese Unregelmäßigkeiten, die uns zu dem machen, was wir sind. Etwas Besonderes.
In diesem Sinne: Schauen wir nach vorn, und konzentrieren wir uns ein wenig mehr auf die vielen positiven Aspekte im Leben!
fraupaul
Mag.a Natascha-Simone Paul
TU Career Center
Projektleitung mein.job
Marketing & Brand Management
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